Migrationspolitik und Migrationsprozesse

 

Warum steht die historische Migrationsforschung bis heute im Schatten des nationalstaatlichen Paradigmas? Schon vor 1800 begannen Staaten ihre Außengrenzen formell zu definieren. Die Begriffe Ein- und Auswanderer reflektieren die rechtliche Kategorisierung von Personen, die von einem Staat in einen anderen übersiedelten. Im 19. Jahrhundert erweiterten und verfeinerten moderne Staaten das Migrationsregime. Politische Entscheidungen spiegeln teilweise widerstrebende Interessen. Vertreter des Militärs forderten Migrationsbeschränkungen zum Schutz der Wehrpflicht. Expandierende Unternehmen setzten sich für offene Grenzen ein, um Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren, vielfach für geringe Löhne. Dieser Hintergrund erklärt, warum Gewerkschaften Migrationsbeschränkungen häufig befürworten, während Repräsentanten von Migranten sich für eine liberale Regelung von Familienzusam- menführungen aussprechen. Der Soziologe Aristide Zolberg beschreibt opportunistische Koalitionen von Unterstützern und Gegnern von offenen Grenzen aus verschiedenen politischen Lagern als das „strange bedfellow“ Phänomen. 1

 

…Die Begriffe Ein- und Auswanderer beschreiben Migrationsprozesse nur unzureichend. Rückwanderer, saisonale Wanderer, Arbeitsmigranten, Touristen und nicht zuletzt Flüchtlinge entziehen sich dieser Zuordnung. Die Amerikamigration aus Süditalien zwischen 1900 und 1914 dokumentiert, warum der Begriff Migration präziser als Ein- oder Auswanderung ist. Die Rückwanderungsrate für süditalienische Amerika- wanderer lag bei über 60%. Die Migranten waren überwiegend junge Männer, die den Atlantik teilweise mehrfach überquerten.

 

1 Aristide R. Zolberg, A Nation by Design: Immigration Policy in the Fashioning of America (2006), S. 10.

 

Aus:

Tobias Brinkmann, “Durchwanderung als Geschäft
: Die Privatisierung der preußischen Ostgrenze 1894–1914,” Zeitschrift für Geschichte 2022(1), S. 18-28.

 

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